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Evaluierung eines Programms zur Stärkung von Sensibilität und Kompetenzen im Umgang mit schwerkranken und sterbenden Menschen und deren Angehörigen

Ein Artikel von Annelies Fitzger­ald, Mia Archam

Aufgrund der erhöht­en Lebenser­wartung und dem damit steigen­den Anteil an alten Men­schen in der Gesellschaft sowie ver­mehrt chro­nisch Erkrank­ter und mul­ti­mor­bider Per­so­n­en in Öster­re­ich, erhöht sich der Bedarf an Hos­piz und Pal­lia­tive Care. Maß­nah­men und Pro­gramme mit hoher Qual­ität und Wirk­samkeit sind deshalb essen­ziell. Eine Evaluierung des Pro­gramms „Hos­pizkul­tur und Pal­lia­tive Care in Alten- und Pflege­heimen“ des Lan­desver­ban­des (LV) Hos­piz Niederöster­re­ich (NÖ) wurde 2022 mit dem Ziel der Sicht­bar­ma­chung von Stärken, Schwächen und Poten­tialen vom Karl Land­stein­er Insti­tut für Human Resources & Human Fac­tors im Gesund­heitswe­sen durchge­führt. Der vor­liegende Bericht bezieht sich auf die vom LV Hos­piz NÖ zur Ver­fü­gung gestell­ten Unter­la­gen sowie auf die Ergeb­nisse der vom Karl Land­stein­er Insti­tut für Human Fac­tors & Human Resources im Gesund­heitswe­sen durchge­führten Befra­gun­gen der Teil­nehmenden im Rah­men des Fach­tages Pal­lia­tive Geri­atrie am 27.04.2022#, in Form von Inter­views, ein­er Fokus­gruppe sowie eines Online-Votings.

 

Das Pro­gramm

2005 und 2006 wurde das umfassende Pro­jekt „Hos­pizkul­tur und Pal­lia­tive Care in Alten- und Pflege­heimen (HPCPH)“ in Öster­re­ich ins Leben gerufen. Ziel des Pro­jek­tes ist es, für das The­ma Hos­pizkul­tur und Pal­lia­tive Care zu sen­si­bil­isieren. Durch Erfahrung und Kom­pe­tenz­bil­dung im Umgang mit schw­erkranken und ster­ben­den Men­schen und deren Ange­höri­gen sollen Mitarbeiter*innen darin gestärkt wer­den, autonom und ver­ant­wor­tungsvoll han­deln zu kön­nen. Der Impuls für die Umset­zung des Pro­jek­ts HPCPH in NÖ ent­stand im Jahr 2008. Im Zeitraum von 2009 bis 2022 wur­den im Rah­men der Work­shops Pal­lia­tive Geri­atrie 4,345 Mitarbeiter*innen aus 48 Pflege­heimen ein­be­zo­gen, wobei es im Tur­nus 2020–2022 auf­grund von COVID-Ein­schränkun­gen zu Verzögerun­gen im Imple­men­tierung­sprozess kam. Die Imple­men­tierung des Pro­jek­tes HPCPH erfol­gt in Form eines stufen­weisen struk­turi­erten Prozess­es mit ein­rich­tungsin­ter­nen Projektleiter*innen und der Begleitung durch den LV Hos­piz NÖ. Die Prozessbegleiter*innen des LV Hos­piz NÖ ver­fü­gen über fundierte Aus­bil­dun­gen in Pal­lia­tive Care wie auch Erfahrun­gen in pal­lia­tiv­er Geri­atrie. Pal­lia­tivbeauf­tragte aus der Ein­rich­tung haben die Auf­gabe, als Mulitplikator*innen tätig zu sein. Voraus­set­zung für diese Auf­gabe ist die Absolvierung eines inter­pro­fes­sionellen Pal­lia­tive Care-Basislehrgangs. In den Work­shops Pal­lia­tive Geri­atrie wer­den die Mitarbeiter*innen aller Beruf­s­grup­pen (Pflege und Medi­zin, Küche, Ver­wal­tung usw.) aus­ge­bildet. Der LV Hos­piz NÖ stellt dabei den Anspruch, dass min­destens 70 % (Ziel: 80 %) aller Mitarbeiter*innen aus allen Beruf­s­grup­pen, inklu­sive aller Führungskräfte, nach dem Cur­ricu­lum Pal­lia­tive Geri­atrie aus­ge­bildet werden.

Um die HPCPH-Philoso­phie in den Heimen nach­haltig ver­ankern zu kön­nen, emp­fiehlt der LV Hos­piz NÖ eine Rei­he an weit­er­führen­den Maß­nah­men wie z. B. Reflex­ion­stage oder Weiterbildungsveranstaltungen.

Zur Qual­itätssicherung des HCPCH in den Ein­rich­tun­gen wird den Ein­rich­tun­gen ein stan­dar­d­isiert­er Bericht als unter­stützen­des Instru­ment zur Ver­fü­gung gestellt. Die Struk­turierung anhand kri­tis­ch­er Erfol­gs­fak­toren soll eine geeignete Grund­lage für eine nachvol­lziehbare Doku­men­ta­tion des Prozess­es bieten. Der LV Hos­piz NÖ hat dabei kein­er­lei Weisungs­befug­nis und kann im gesamten Organ­i­sa­tion­sen­twick­lung­sprozess auss­chließlich eine Berater- und Unter­stützer­rolle einnehmen.

 

Evaluierung und Ergebnisse

Zu Auswirkun­gen, Stärken, Schwächen und Poten­tialen des HPCPH-Pro­grammes des LV Hos­piz NÖ wur­den im Rah­men des Fach­tages Pal­lia­tive Geri­atrie am 27.04.2022 vom Karl Land­stein­er Insti­tut für Human Fac­tors & Human Resources im Gesund­heitswe­sen Befra­gun­gen in Form von 21 Inter­views, ein­er Fokus­gruppe sowie eines Online-Vot­ings durchgeführt.

 

Auswirkun­gen des HPCPH-Programmes

Erhöhung von Strate­gien und Kom­pe­ten­zen auf der indi­vidu­ellen Ebene 

Alle in Pal­lia­tive Care arbei­t­en­den Per­so­n­en sind auf zahlre­iche kon­struk­tive Bewäl­ti­gungsstrate­gien angewiesen, um bei dieser mehrdi­men­sion­al belas­ten­den Arbeit gesund bleiben zu kön­nen. Sen­si­bil­isierung und Entwick­lung von Bewäl­ti­gungsstrate­gien sind dabei wichtige Ziele. Vor allem die Fähigkeit zur Selb­stre­flex­ion kristallisierte sich als zen­tral her­aus: Bewäl­ti­gungsstrate­gien basieren auf bewusstem und reflek­tiertem Denken und Han­deln (Hirsmüller & Beck­er, 2012; Krohn, 2018).

Klare Ergeb­nisse unser­er Erhe­bun­gen zeigen sich bei den pro­tek­tiv­en Fak­toren der Resilienz. Eine Verbesserung von emo­tionaler Sta­bil­ität (z. B. Akzep­tanz), kog­ni­tiv­en Fähigkeit­en (z. B. Kohären­zge­fühl) und inter­ak­tionalen Bedin­gun­gen wie soziale Unter­stützung bzw. Empathie, wer­den in den offe­nen Antworten der Teilnehmer*innen deut­lich betont.

Vor allem durch die Erhöhung von Sicher­heit und Ori­en­tierung im beru­flichen All­t­ag bei der Begleitung von Bewohner*innen, Ster­ben­den, aber auch im Umgang mit Ange­höri­gen, wur­den von den Befragungsteilnehmer*innen mehr Gelassen­heit, Mut und Sen­si­bil­ität angegeben. Im Zusam­men­hang mit der angegebe­nen Erhöhung von indi­vidu­ellen Kom­pe­ten­zen im Sinne von Selb­ständigkeit, Selb­stver­trauen und Selb­stver­ant­wor­tung kann diese Auswirkung der Maß­nah­men im Rah­men des HPCPH-Pro­gramms als Resilien­zförderung eingestuft wer­den. Mehr als die Hälfte der Befragten gab eine Verbesserung des fach­lichen Wis­sens wie etwa über Symp­tomkon­trolle, Schmerzther­a­pie, Aromapflege, Snoeze­len oder die Ken­nt­nis von Möglichkeit­en zur Durch­führung von hil­fre­ichen Rit­ualen an. Hin­sichtlich Kon­trol­lüberzeu­gung als Resilien­z­fak­tor, wobei es nicht  um die tat­säch­liche Bee­in­fluss­barkeit ein­er Sit­u­a­tion, son­dern um sub­jek­tiv emp­fun­dene Hand­lungsspiel­räume geht (Resilienz-Akademie, 2018), wur­den vor allem Möglichkeit­en, die Arbeit bedürfnisori­en­tiert­er und mit dem entsprechen­den Freiraum für eine indi­vidu­ellere Betreu­ung durch­führen zu kön­nen, genannt.

84 % der Befragten heben in den Inter­views pos­i­tive Verän­derun­gen bei der indi­vidu­ellen Betreu­ung von Bewohner*innen durch die Imple­men­tierung des HPCPH-Pro­gramms her­vor. Von 68 % der Befragten wer­den die Möglichkeit­en der ver­stärk­ten Ein­bindung von Ange­höri­gen, bewusstere Kom­mu­nika­tion und bessere Weit­er­gabe von Infor­ma­tio­nen betont.

Die Ergeb­nisse der durchge­führten Befra­gun­gen zeigen deut­lich, dass mit dem HPCPH-Pro­gramm des LV Hos­piz NÖ ressourcenzen­tri­erte Strate­gien zur Stärkung der Resilienz wirk­sam wer­den, die sich stark auf die Pflege und Betreu­ung von Bewohner*innen auswirken und den Aus­tausch mit den Ange­höri­gen pos­i­tiv beeinflussen.

Ergeb­nisse zu Auswirkun­gen des HPCPH-Pro­gramms auf den insti­tu­tionellen bzw. organ­isatorischen Ebenen: 

Vorauss­chick­end wird fest­ge­hal­ten, dass mehr als ein Vier­tel aller Befragten angeben, dass das HPCPH-Pro­gramm in ihrer Ein­rich­tung derzeit ruht bzw. erst im Wieder­auf­bau begrif­f­en ist. Als Gründe wer­den neben der COVID-19-Pan­demie vor allem Kom­pe­ten­zlück­en durch Pen­sion­ierun­gen oder durch Mitarbeiter*innenwechsel, sowie die damit ver­bun­dene Zeit für die Ein­schu­lung neuer Mitarbeiter*innen genan­nt. Die Doku­men­ta­tion von Maß­nah­men im Rah­men des HPCPH-Pro­gramms wurde von allen Teil­nehmenden bestätigt. Aus­maß, Inhalt und Ein­tra­gung­sort wer­den sehr unter­schiedlich angegeben.

Als Auswirkun­gen der Imple­men­tierung des HPCPH-Pro­gramms wer­den mehr Klarheit über Kom­pe­tenzbere­iche, bessere Pri­or­itätenset­zun­gen bei der Arbeit­sein­teilung, pos­i­tive Verän­derun­gen bei der Zusam­me­nar­beit und Verbesserun­gen der gegen­seit­i­gen Unter­stützung im (mul­ti­pro­fes­sionellen) Team sowie selek­ti­vere Kranken­hau­sein­weisun­gen angegeben.

Selek­ti­vere Kranken­hau­sein­weisun­gen, welche sich ent­las­tend auf den sta­tionären Kranken­haus­bere­ich auswirken, wer­den von den Interviewteilnehmer*innen als Kon­se­quenz der erhöht­en Sicher­heit im Umgang mit Bewohner*innen und Ange­höri­gen sowie durch mehr Wis­sen und Bewusst­sein über den Ster­be­prozess for­muliert.  Als wichtig und unter­stützend dabei wird das frühe Vor­sorgege­spräch bzw. Vor­sorge­di­a­log und die Ein­führung ein­er Pal­lia­tiv­gruppe genannt.

Für die Sicherung der Nach­haltigkeit von HPCPH in den Ein­rich­tun­gen wer­den vor allem die Ein­führung eines*r zweit­en Pal­lia­tivbeauf­tragten genan­nt, welch­es seit­ens des LV Hos­piz NÖ bere­its in den Richtlin­ien für die HPCPH-Imple­men­tierung vorge­se­hen ist. Mehr Zeitres­sourcen, häu­figere haus­in­terne Fort­bil­dun­gen und Pal­lia­tivbeauf­trag­ten­tr­e­f­fen oder finanzielle Ressourcen für Pal­lia­tivpro­jek­te wur­den eben­falls genan­nt. Eben­so wurde von Teil­nehmenden betont, dass Maß­nah­men, welche zur stärk­eren Präsenz und Erhöhung der Sen­si­bil­isierung in Bezug auf das HPCPH-Pro­gramm in den Ein­rich­tun­gen beitra­gen kön­nen, getrof­fen wer­den soll­ten

Die Ergeb­nisse der Eval­u­a­tion 2022 leg­en auch nahe, dass Maß­nah­men zur ein­rich­tungsin­ter­nen Posi­tion­ierung des Organ­i­sa­tion­sen­twick­lung­sprozess­es – in Zusam­me­nar­beit des LV Hos­piz NÖ und den einzel­nen Ein­rich­tun­gen – zur Ver­ankerung der Hos­pizkul­tur und Pal­lia­tive Care ver­stärkt wer­den sollten.

 

Wichtige Möglichkeit­en zur Verbesserung des HPCPH-Pro­gramms sind Abstim­mungen und ver­stärk­ter Infor­ma­tion­saus­tausch mit Bewohner*innenvertretungen, ver­stärk­ter Fokus auf die The­men Schmerzther­a­pie und Sterbeverfügung.

Speziell bei der großen Bedeu­tung und dem erhöht­en Bedarf an Hos­piz- und Pal­lia­tive Care sind Maß­nah­men mit evaluiert­er, hoher Qual­ität und Wirk­samkeit und die Ver­stärkung der Öffentlichkeit­sar­beit zur Sicht­bar­ma­chung der Arbeit im Hos­piz- und Pal­lia­tivbere­ich beson­ders wichtig.

Es ist eine wesentliche Auf­gabe von uns, der Gesellschaft, Poli­tik und jed­er einzel­nen Organ­i­sa­tion, die Men­schen zu unter­stützen, die in diesem Bere­ich arbeit­en und sie im Umgang mit Schw­erkranken und Ster­ben­den und deren Ange­höri­gen darin zu stärken, autonom und ver­ant­wor­tungsvoll han­deln zu können.

 

Lit­er­atur

Auszug Lit­er­atur und Quellen (Gesamte Lit­er­at­u­rangaben bei den Autoren)

Hirsmüller, S, Beck­er, G (2012). Resilienz der Begleit­er. Zeitschrift für Pal­lia­tivmedi­zin, 13, Nr. 05, https://doi.org/10.1055/s‑0032–1322905.

Krohn, M. (2018). Ärztliche Resilienz durch Acht­samkeit. Gruppe. Inter­ak­tion. Organ­i­sa­tion. Zeitschrift für Ange­wandte Organ­i­sa­tion­spsy­cholo­gie (GIO), 49, Nr. 2 , 149–55, https://doi.org/10.1007/s11612-018‑0415‑9.

Resilienz-Akademie (2021). Resilien­z­fak­toren. https://www.resilienz-akademie.com/resilienzfaktoren-die-faktoren-individueller-resilienz/

 

 

Zur Per­son

Kor­re­spondierende Autorin:

Mag. Dr. Annelies Fitzger­ald
Leitung Karl Land­stein­er Insti­tut für Human Fac­tors & Human Resources
Lothar Bürger–Steig 3 | 3062 Kirch­stet­ten
www.kli-hr.at
a.fitzgerald@karl-landsteiner.at

Mia Archam
health care com­mu­ni­ca­tion
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